Kapitel 18

Rafael sang einen einfachen Zauber, während er durch das zertrümmerte Haus ging. Es war enttäuschend, von einer Magie abhängig zu sein, die auch ein absoluter Amateur wirken konnte. Einer Magie, die er nicht mehr angewandt hatte, seit er einst ein Grünschnabel gewesen war. Aber nachdem er unglücklicherweise den Kelch verloren hatte, als dieser zum Greifen nahe gewesen war, war er nicht töricht genug, es zu wagen, die Kräfte des dunklen Herrschers zu beschwören.

Er hatte nicht so viele Jahre gelebt, weil er dumm war.

Der Fürst besaß die hässliche Angewohnheit, diejenigen zu bestrafen, die ihn enttäuschten. Es bestand keine Notwendigkeit, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Der Magier erreichte den Flur im Obergeschoss, hielt an, spreizte die Hände und sprach einen Befehl. Dann studierte er die farbigen Wirbel, die für kurze Zeit in der Dunkelheit erschienen.

»Sie waren hier«, sagte er befriedigt zu den drei Jüngern, die in respektvollem Schweigen hinter ihm standen.

Vielleicht war es auch verängstigtes Schweigen. Seit Amils Tod hatte eine angespannte Wachsamkeit die Anhänger gepackt. Das passte Rafael ausgezeichnet. Er gab der Furcht bei Weitem den Vorzug vor dem Respekt. Furcht nährte seine Macht noch. Er beobachtete, wie die Farben zu verblassen begannen.

»Ein Vampir, ein Mensch und... ah, der Welpe der Hexen.«

»Die Hexen haben den Kelch?«, fragte eine dünne Stimme hinter ihm.

Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich seinen wartenden Dienern zuwandte. »Nein. Er befindet sich noch immer in der Nähe. Ich kann seine Macht spüren. Durchsucht das Haus. Und vergesst nicht, ich erwarte, dass der Kelch am Leben bleibt.«

Der älteste der drei Jünger trat vor. »Was ist mit dem Vampir?«

»Tötet ihn.«

Die drei verschmolzen mit der Dunkelheit, als ein düsteres, Furcht einflossendes Lachen durch den Korridor hallte.

»Das ist leichter gesagt als getan.«

Rafael versteifte sich, bevor er sich zwang, eine Nonchalance vorzugeben, die er ganz und gar nicht empfand. Er konnte es sich nicht erlauben, den Vampir bemerken zu lassen, dass er nicht über seine Kräfte verfügte. Nicht, wenn er überleben wollte.

»Nun, nun«, sagte er gedehnt und stellte sich mit dem Rücken zur Wand. Er würde es der Bestie nicht gestatten, sich von hinten anzuschleichen. »Wenn das nicht der treue Hund ist. Sind deine Herrinnen so arrogant geworden, dass sie glauben, ein einziger erbärmlicher Vampir könne mich besiegen? Oder sind sie einfach dermaßen verzweifelt?«

»Keines von beidem.« Die geisterhafte Stimme ertönte in der leeren Luft. »Ich habe nur deine langweilige Jagd satt.«

»Zum Glück für dich wird das bald enden. Es ist an der Zeit, dich ein für alle Mal zu vernichten, Vampir.«

Dante war vorbereitet, als der Magier die Hand ausstreckte und einen Lichtblitz in seine Richtung sandte. Bei seiner übermenschlichen Schnelligkeit bedeuteten solche Salontricks vergeudete Mühe.

Das war etwas, was der Magier eigentlich wissen sollte.

Dante war weiterhin vorsichtig, als er näher glitt. Er würde sich nicht in eine unsichtbare Falle locken lassen.

»Wie geht es Amil?«, stichelte er und tastete mit seinen Sinnen nach verborgenen Gefahren.

Ein Lächeln bildete sich auf den dünnen Lippen.

»Er stellte fest, dass die Pflichten eines Dieners zu schwer zu erfüllen waren. Also kam er zu dem Entschluss, dass es mehr nach seinem Geschmack war, sich dem Fürsten zu opfern.«

»Wie edel von ihm.«

Ein höhnisches Lächeln bildete sich auf dem bleichen Gesicht. »Er war ein schnüffelnder, rückgratloser Wurm, der bei der Geburt hätte erwürgt werden sollen. Dennoch hat er seinen Zweck erfüllt.«

Es folgte ein weiterer Blitz, der in die Wand einschlug und das Holz verkohlen ließ. Argerlicherweise konnte Dante nichts weiter spüren, was ihn vor der Absicht des Magiers gewarnt hätte.

Er würde sich nicht zu erkennen geben, bis er sich sicher war, dass es keine hässlichen Überraschungen gab.

»Der Fürst hat stets seinen Anteil an Blutopfern verlangt, damit er zufrieden war. Trotzdem muss es doch schwierig sein, heutzutage willige Opfer zu finden.«

Der Magier zuckte mit den Schultern. »Der Fürst hat nie verlangt, dass seine Opfer willig sind.«

»Was für eine charmante Gottheit.«

»Eine mächtige Gottheit.«

Dante lachte spöttisch auf. Er wollte, dass der Magier abgelenkt und unvorsichtig war, so dass er einen Fehler beging.

Seinen letzten Fehler.

»So mächtig, dass er durch eine Handvoll menschlicher Hexen von der Erde verbannt wurde.«

Der andere Mann knurrte tief in der Kehle. »Er wurde von seinen Anhängern verraten, die zur Selbstgefälligkeit verleitet worden waren. Ich werde dafür sorgen, dass das nicht noch einmal geschieht.«

Dante schlich immer näher. Wenn er erst seine Zähne tief in den Hals des Magiers geschlagen hatte, würde dieser hilflos sein. Er würde seine Stimmbänder brauchen, um seine Zaubersprüche zu murmeln.

»Und du glaubst, er wird dich reichlich belohnen?«

Ein beinahe fanatischer Stolz leuchtete in dem schmalen Gesicht. »Ich werde an seiner Seite herrschen.«

Dieses Mal war Dantes Gelächter echt. »Du bist ein noch größerer Dummkopf als Amil. Der Fürst herrscht allein, und diejenigen, die ihn verehren, sind nicht mehr als Insekten, die seiner Beachtung nicht wert sind.«

»Was weißt du schon, Vampir? Es gibt nichts, was du verehrst. Nichts, woran du glaubst.«

»Ich bin zumindest klug genug, meine Seele nicht an ein Wesen zu verschachern, das mir ganz gewiss nicht mehr als Verrat bieten wird.«

Der Magier griff in seine Tasche, um einen kleinen Kristall herauszuziehen. Dante zögerte. Warum sollte der Magier ein magisches Spielzeug verwenden, wenn er das Medaillon des dunklen Herrschers besaß?

Eine blaue Flamme schoss auf ihn zu. Sie schlug in den Boden ein, und die Villa ächzte. Es klang wie der Atemzug eines Menschen, der zu Boden stürzte.

Mühelos rettete sich Dante aus der Gefahrenzone, und seine Gedanken rasten.

Obwohl er keine Magie als solche aufspüren konnte, war er imstande, die Macht zu spüren, die um den Magier herumwirbelte. Da gab es eine pulsierende Energie, die mehr als das gesamte Gebäude zerstören konnte, und dennoch weigerte der Mann sich, danach zu greifen.

Warum?

Es dauerte eine ganze Weile, bis Dante endlich die Wahrheit erkannte. Natürlich. Mit einem leisen Lachen ließ er die Schatten los, in die er sich gehüllt hatte.

Der Magier beschwor den dunklen Herrscher nicht, weil er befürchtete, dass sein Fürst möglicherweise darauf wartete, sich an ihm zu rächen, weil er ihn enttäuscht hatte.

Es war perfekt.

Er trat vor, die Arme lässig vor der Brust verschränkt. Der Magier beobachtete, wie er sich ihm näherte, und leckte sich über die dünnen Lippen.

»Ich vermute, du versuchst mich beschäftigt zu halten, damit die Frau fliehen kann?«, polterte er. »Ein sinnloser Versuch. Meine Diener werden sie bald in ihrer Gewalt haben.«

Dante lächelte nur. »Nachdem ich bereits die Bekanntschaft deiner Diener gemacht habe, kann ich nicht behaupten, übermäßig besorgt zu sein.«

Ohne Vorwarnung stürzte er sich auf die hagere Gestalt. Er wollte diese Sache hinter sich bringen. Abby war allein, und obwohl er volles Vertrauen in ihre Fähigkeit hatte, mit ihren menschlichen Feinden fertig zu werden, so gab es doch immer noch Dämonen, die imstande waren, die Anwesenheit des Phönix zu entdecken.

Er grub seine Nägel in die Arme des Mannes und fuhr seine Fangzähne aus. Vor seiner Zeit der Bindung an den Kelch hätte er den Mann ausgetrunken. Nun würde er sich damit zufriedengeben müssen, ihm die Kehle herauszureißen.

Es war eine Schande.

Er senkte den Kopf. Leider wollte sich der Magier nicht kampflos töten lassen, sondern er wehrte sich mit kalter Entschlossenheit. Sein leiser Sprechgesang erfüllte die Dunkelheit, während er in seine Tasche griff, um einen glatten Ebenholzpflock herauszuholen.

Ganz plötzlich erfüllte ein Lichtblitz den Gang, blendete Dante und zwang ihn zurückzuweichen. Ein Pflock war ein Pflock, und er würde bestimmt nicht zulassen, dass übersteigertes Selbstvertrauen zu seinem Untergang führte.

Vorsichtig umkreiste er den Mann und wartete auf eine günstige Gelegenheit.

Der Magier warfeinen Blick nach unten auf seine blutenden Arme. »Weißt du, dass es keinen Grund für uns gibt, Feinde zu sein? Ich könnte dich aus deiner Sklaverei befreien. Wenn du mir den Kelch aushändigst, so garantiere ich dir, dass du befreit werden wirst.«

Dante streckte mit einer eleganten Bewegung die Hand aus, um dem Mann das Gesicht aufzuschlitzen. »Du glaubst, ich würde dir trauen?«

Der Magier zuckte zusammen, aber seine Selbstbeherrschung geriet nicht ins Wanken. »Warum nicht? Es würde für mich keinen Vorteil bedeuten, dich zu töten. Im Augenblick bist du mir im Wege, aber wenn du zur Seite treten würdest, könnten wir uns als wertvolle Verbündete erweisen.«

»Das klingt verlockend, aber ich denke nicht, dass ich mich darauf einlasse.«

»Haben die Hexen dich dermaßen in die Knie gezwungen?«, spottete der Magier. Er hielt den Pflock lässig zwischen den Fingern, als habe er vergessen, dass er ihn überhaupt in der Hand hielt. Dante war nicht dumm. Der Magier hoffte ihn zu provozieren, was ihm die Gelegenheit geben würde anzugreifen. »Wie erbärmlich.«

Dante zuckte die Achseln. »Es hat nichts mit den Hexen zu tun.«

»Dann...« Der Magier lachte plötzlich auf. »Ah, natürlich. Das Mädchen bedeutet dir inzwischen etwas. Es ist schlimmer, als seiest du in die Knie gezwungen - du bist vollkommen kastriert.«

»Eigentlich ist dir der offensichtlichste Grund, warum ich mich weigere, mich mit dir zusammenzutun, entgangen.«

Die kalten Augen verengten sich. »Und der wäre?«

»Ich mag dich nicht.«

Als er endlich begriff, dass Dante sich nicht einschüchtern oder zwingen lassen würde, griff der Magier nach dem Medaillon, das ihm um den Hals hing. Er würde den Zorn seines Meisters riskieren müssen, wenn er nicht in diesem Korridor sterben wollte.

Dante ging in die Hocke und bereitete sich auf den bevorstehenden Angriff vor.

Trotz der schwülen Nachtluft zitterte Abby.

Das lag an mehr als nur der gruseligen Wanderung durch den spinnenverseuchten Tunnel. Oder dem Bewusstsein, dass sie, wenn sie allein an der Ecke stand, genauso gut ein Schild um den Hals tragen konnte, auf dem »Kommt und fresst mich!« stand, als Einladung für jeden Dämon Chicagos.

Noch mehr beschäftigte sie die Tatsache, dass sie Dante spüren konnte.

Sie war vielleicht nicht in der Lage, seine Gedanken zu lesen, aber seine Gefühle waren überdeutlich.

Er legte keine falsche Spur. Oder suchte auch nur nach der Fährte der seltsamen Dämonin.

Er trat dem Zauberer entgegen.

Sie konnte seine tödliche Absicht spüren, als sei es ihre eigene.

Dieser verdammte Kerl.

Sie würde...

Ihre Vorstellungskraft versagte, aber es würde etwas wirklich sehr Schlimmes sein.

Abby zermarterte sich das Hirn über mögliche Konsequenzen von Dantes Alleingang, als sie plötzlich das unverkennbare Geräusch sich nähernder Schritte hörte. Sie erstarrte.

»Mir reicht es langsam mit dieser Scheiße. Ich bin doch kein verdammter Bluthund«, murmelte eine männliche Stimme. »Wir haben ihre Spur verloren.«

»Halt die Klappe, und such weiter. Es sei denn, du willst zum Meister zurückkehren und zugeben, dass du versagt hast?«, sagte eine eiskalte zweite Stimme.

Stumm versteckte sich Abby in dem Busch neben dem Baum. Ihre Verfolger schienen menschlich zu sein, aber sie war darüber nicht übermäßig erleichtert.

Nicht, nachdem sie gesehen hatte, was der Magier den Hexen angetan hatte.

»Die könnte inzwischen überall sein.«

»Hör mir zu, du Idiot.« Abby spähte durch die Blätter und sah, wie ein kleiner, gedrungener Mann einen Jungen mit Pickelgesicht am Hals packte. »Als ich Amil gefunden habe, war sein Blut überall auf dem Altar verspritzt, und er sah aus wie ein geschlachtetes Schwein. Ich habe nicht die Absicht, ihm in der Hölle Gesellschaft zu leisten. Wenigstens jetzt noch nicht.«

Ein dritter Mann, der wie ein Verteidiger beim Football gebaut war und ein Gesicht besaß, das Brutalität und Dummheit ausdrückte, ballte seine Hände zu Fäusten.

»Vielleicht tut der Vampir uns allen einen Gefallen und tötet den Scheißkerl«, knurrte er.

Der kleine Mann wirbelte herum, um ihn anzusehen. »Wollt ihr etwa euer Leben für einen machtlosen Vampir riskieren?« Er wartete darauf, dass einer der beiden anderen Männer sprach. Sie waren offensichtlich nicht so dumm, wie sie aussahen, denn beide ließen die Köpfe hängen, um eingehend ihre Zehen zu studieren. »Schön. Verteilt euch, und durchsucht den Block.«

Es folgte ein kurzer Moment der Anspannung, als ob die beiden Blödmänner überlegten, ob sie dem Oberblödmann in den Rücken fallen sollten. Ganovenehre und diese Dinge waren wohl nur so eine Redensart. Dann schienen sie zur Vernunft zu kommen. Sie drehten sich um und trotteten widerwillig die Straße hinunter.

Abby zwang sich, totenstill an Ort und Stelle zu verharren, während sie daraufwartete, dass der übrig gebliebene fröhliche Geselle verschwand. Es gab alle möglichen Verstecke zu durchsuchen.

Die meisten von ihnen waren weitaus intelligentere Orte für ein Versteckspiel als ihr eigener erbärmlicher wilder Busch.

Der Mann rannte nicht davon. Er schlenderte nicht einmal fort. Er blieb so festgewurzelt stehen wie die uralte Eiche. Es schien, als ob ihre verdammte Pechsträhne weiterhin anhielt.

Mit einer großen Geste, die Abby unter normalen Umständen zum Lachen gebracht hätte, griff der nervende Trottel in die Tasche seiner schweren Robe und zog einen merkwürdigen Stein heraus, der an einer Kette hing. Er hielt ihn in die Höhe und begann mit einem leisen Sprechgesang.

Abby wusste nicht, was der Stein bewirkte, aber sie war sich sicher, dass es nichts Gutes sein konnte.

Tatsächlich überhaupt nichts Gutes. Das bemerkte sie, als der Stein zu glühen begann und ein Grinsen das runde Gesicht überzog.

»Du bist in der Nähe, Kelch. Ich kann dich spüren.« Er trat zu den in der Nähe geparkten Autos, um sie zu durchsuchen. Dann spähte er in die Äste des Baums. »Hallo. Was haben wir denn da?«

Abby hätte erschrocken sein sollen. Oder sie hätte sich zumindest fürchten sollen.

Stattdessen war sie wirklich und wahrhaftig sauer.

Verdammt. Sie war nicht auf Ärger aus. Alles, was sie wollte, war, die Hexen zu finden und diese ganze alberne Sache hinter sich zu bringen.

Warum zum Teufel konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen?

So wie ihre Wut immer größer wurde, so wuchs auch das heiße Kribbeln in ihrem Blut. Der Phönix in ihr bereitete sich darauf vor, Maßnahmen zu ergreifen, um sich selbst zu schützen.

Und es gab nichts, was sie tun konnte, um ihn aufzuhalten.

Abby drängte sich gegen die stacheligen Zweige und streckte die Hand aus. »Zurückbleiben.«

»Was passiert sonst? Du schreist?«

»Ich möchte Sie nicht verletzen.«

Es folgte eine Pause, bevor der Mann ein hässliches Lachen ausstieß. »Du mich verletzen?«

»Ja.«

»Du hast doch nicht die Fähigkeit oder den Nerv dazu. Das ist das Problem mit euch Unschuldsengeln.« Er warfeinen gezielten Blick nach unten. »Keine Eier.«

Das Feuer brannte jetzt sogar noch heißer. Zum Teufel. Warum hielt der Idiot nicht einfach die Klappe und machte sich vom Acker? Sie hatte ihn doch gewarnt, oder etwa nicht?

Natürlich war er testosterongefüllt. Eine Frau, die ihn warnte, war praktisch eine rote Flagge, die man vor seinem Gesicht hin-und herschwenkte.

»Ich sage Ihnen, dass Sie derjenige sind, der keine Eier mehr haben wird, wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen.«

»Du denkst, dein Vampir kommt zu deiner Rettung gerannt? Ich kann dir versprechen, dass er schon wieder in seinem Grab ist, wohin er gehört.«

Abby schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht viel, aber sie wusste, dass Dante sich in keinem Grab befand. Nicht, bevor sie ihn in die Finger bekam.

»Nein, er ist sehr lebendig.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle. Bald ist er tot oder steht auf unserer Seite. Der Meister hat ein besonderes Talent dafür, Leute zu rekrutieren.« Das runde Gesicht nahm einen harten Zug an. »Sogar diejenigen, die nie den dunklen Herrscher anbeten wollten.«

»Es ist noch nicht zu spät«, drängte Abby ihn. »Sie können noch verschwinden.«

»Verschwinden? Niemand verschwindet so einfach. Nicht, wenn er nicht sterben 'will«, knurrte er. »Du hast genug von meiner Zeit verschwendet. Gehen wir.«

»Nein.«

»Scheiße.« Er hob drohend eine Faust. »Meinst du etwa, ich würde dir nichts tun? Der Meister sagte, du sollst am Leben sein, aber er sagte nichts darüber, dich nicht übel zuzurichten.«

Abby bezweifelte seine Bereitschaft, sie zu verletzen, keinen Moment. Sie spürte, dass es ihm sehr viel Spaß machte, diejenigen, die schwächer waren als er, zu drangsalieren.

Genau wie ihr Vater.

Aber er war kein Dämon, Zombie oder mächtiger Magier.

Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie ihn mit schrecklicher Leichtigkeit töten konnte.

»Okay, ich komme, aber Sie müssen zuerst ein Stück zurücktreten«, gab sie zurück, in der Hoffnung, etwas Abstand zu gewinnen.

»Denkst du wirklich, dass ich so dämlich bin?« Die Knopfaugen verengten sich, während der Mann die Hand ausstreckte, um eine Handvoll von ihrem Haar zu packen. »Mir reicht es jetzt, komm schon.«

Abby schossen die Tränen in die Augen, als er brutal an ihren Haaren riss. Sie merkte, wie sie vorwärtstaumelte. Es war reiner Instinkt, der sie nach oben greifen und den Mann am Arm packen ließ. Sie hatte nur die Absicht gehabt, sich davor zu schützen, dass ihr Gesicht auf den Boden krachte, aber in dem Augenblick, als ihre Hände sein Handgelenk berührten, loderte die Glut in ihren Handflächen auf.

Der Mann gab einen schrillen Schrei von sich, riss sich los und drückte seine Hand vorsichtig gegen seine Brust.

»Du... Miststück. Du dummes Miststück«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Hass glitzerte in seinen Augen auf. »Dafür wirst du bezahlen.«

Mit einem Gefühl der Übelkeit krampfte sich Abbys Magen zusammen. Sie erkannte diesen Gesichtsausdruck. Natürlich. Schließlich hatte sie ihn oft genug gesehen.

Entsetzt beobachtete sie, wie der Mann die Hand zur Faust ballte und sie hob, um damit zuzuschlagen, und blitzartig kehrte die Erinnerung zurück.

Nein.

Sie richtete sich auf.

Nicht wieder. Nie wieder.

Der Mann, der sich darauf vorbereitete, einen brutalen rechten Haken zu landen, wurde zu sehr von seiner Wut geblendet, um sich vorzustellen, dass er tatsächlich einer Frau, die zehn Zentimeter kleiner und fast fünfzig Kilogramm leichter war als er, unterliegen könnte.

Erst als sie vorwärtshechtete und ihre Hände mitten auf seine Brust legte, kam ihm dieser Gedanke.

Rauch begann aufzusteigen, als er vor Schmerz aufheulte, aber Abby geriet nicht ins Wanken. Der Möchtegernzauberer würde sie töten, wenn er die Chance dazu erhielt. Sie hatte nicht die Absicht, ihm diese Chance zu geben.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf wurde Abby bewusst, dass Dante sich ihr mit großer Geschwindigkeit näherte. Seltsamerweise hielt er neben dem Baum an, statt sich in die Auseinandersetzung einzumischen.

Ob aus Angst, dass sie ihn vor lauter Verwirrung rösten könnte, oder weil er sich Sorgen machte, sie abzulenken, konnte sie nicht erkennen. Und im Moment war sie ein wenig zu beschäftigt, um sich darüber Gedanken zu machen.

Der Mann umklammerte ihre Arme und bemühte sich, sie näher an sich zu ziehen.

»Dafür wirst du bezahlen«, keuchte er.

Abby biss die Zähne zusammen, als sie noch fester zudrückte. Ein furchtbarer Gestank begann die Luft zu erfüllen. Der Geruch von brennendem Stoff und, wie sie vermutete, von verbranntem Fleisch.

Und dann, gerade als Abby das Gefühl hatte, es nicht mehr ertragen zu können, gab ihr Angreifer einen erstickten Schrei von sich, riss sich mit einem verzweifelten Ruck von ihr los und taumelte davon.

Einen kurzen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm folgen sollte. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er ein böser Mann war, der imstande war, allen möglichen unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen. Aber sie wusste, dass sie, obwohl bereit, sich selbst zu schützen, nicht absichtlich einen Fliehenden verfolgen und seinem Leben ein Ende setzen konnte.

Das ging weit über ihren Zuständigkeitsbereich hinaus.

Stattdessen sank sie auf die Knie und holte tief Luft.

»Du kannst jetzt rauskommen, Dante. Ich weiß, dass du hier bist.«